Eurythmie Waldorfschule Nürtingen

Eurythmie

Für Insider ist es natürlich eine längst bekannte Tatsache, dass das Fach Eurythmie an einer Waldorfschule von der ersten bis zur zwölften Klasse unterrichtet wird. „Neue“ Eltern nehmen diese Tatsache auch zumeist ohne ernsthafte Hinterfragung hin. Sieht man dann im Rahmen einer Monatsfeier sein Kind zum ersten Mal mit der Eurythmie auf der Bühne, ist man auch in der Regel sehr angetan von dem, was hier dargeboten wird.

Für den wohlwollenden Betrachter tritt aber zumeist im Laufe der Jahre eine gewisse Ernüchterung ein und es keimt unter Umständen die Frage nach dem Sinn eines solchen Faches auf. Diese Sinnfrage kann sich dann noch weiter verstärken, wenn man sein Kind, mittlerweile zum Jugendlichen herangereift, fragt: „Was macht ihr eigentlich in der Eurythmie?“, und man dann nur ein undefinierbares Achselzucken als Antwort erhält. Dies trägt auch nicht gerade zu einer Auflösung dieser Situation bei.

Diejenigen unter Ihnen, die sich nun vielleicht Hoffnungen machen, durch diesen Beitrag eine schlussendliche Antwort zu erhalten, müssen leider enttäuscht werden. Ziel dieses Artikels ist es, bestenfalls einige Aspekte aufzuzeigen, was mit der Eurythmie in der Schule und hier im Speziellen in der Oberstufe erreicht werden kann. Zunächst ein sehr praxisbezogener Aspekt.

Wir wissen nicht erst seit Samy Molchos Veröffentlichungen über die Körpersprache, dass wir in jedem Moment durch unsere Haltung, Bewegungen oder Mimik Signale aussenden, die gelesen oder verstanden werden können. Personalchefs jeglicher Sparte haben sich hier bereits seit langemeine Beobachtungsgabe angeeignet. Wie sonst könnten sie bei gleicher Qualifikation aus zwei oder mehr Bewerbern den „Richtigen“ auswählen? Coaches nehmen sich gerne dieses Problems an und trainieren mit ihren Zöglingen das sichere Auftreten in solchen Situationen.

In der Eurythmie besteht die Möglichkeit, sich im Laufe der Zeit durch immer geschultere Selbstwahrnehmung einen selbstverständlichen Umgang mit dem Instrument Körper zu erarbeiten. Es gibt noch einen weiteren für das Berufsleben entscheidenden Aspekt. Es gibt kaum mehr einen Berufszweig, in dem nicht eine ausgeprägte Teamfähigkeit ein entscheidendes Qualifikationskriterium ist. In der Eurythmie lernen schon die Kleinsten, dass eine Form nur gelingen kann, wenn alle richtig laufen. Dieses Qualitätsbewusstsein kann vor allem in der Oberstufe durch die selbstständige Ausarbeitung verschiedener Stücke in kleineren Gruppen wesentlich gesteigert werden.

Ganz unmittelbar werden hier die eigenen Stärken, wie zum Beispiel Kompromissfähigkeit, aber auch die Schwächen, wie beispielsweise eine zu große Dominanz, erlebbar. Darüber hinaus können auch gruppendynamische Prozesse sowohl in ihren positiven als auch negativen Auswirkungen veranschaulicht werden.

Sicherlich können sich die meisten von Ihnen noch aus der eigenen Schulzeit an Diskussionen mit dem jeweiligen Mathematiklehrer erinnern, hinter denen stets die Frage stand: „Wozu brauche ich das eigentlich, was wir hier lernen?“

Die meiner Meinung nach schlüssigste Antwort lautet: „Damit dein Hirn es wenigstens einmal gedacht hat.“ Ähnliche Diskussionen könnten sich im Sportunterricht zum Beispiel an der Frage des Felgaufschwungs entzünden. Auch hier könnte die Antwort vergleichbar lauten: „Damit es dein Körper wenigstens einmal gemacht hat.“ Diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Wir können also feststellen, dass in der Schulzeit Inhalte vermittelt werden, die unter anderem dazu dienen, dem Denken oder auch dem Körper als Bewegungsinstrument gewisse Abläufe abzuverlangen, um sich daran weiterzuentwickeln. Aufmerksamen Lesern ist sicherlich nicht entgangen, dass hier ein ganz wesentlicher Aspekt nicht berücksichtigt wurde. In welchem Fach könnte denn die Antwort lauten: „Damit es deine Seele wenigstens einmal gefühlt hat.“

Der Eurythmie steht bestimmt nicht das alleinige Recht zu, diese Antwort geben zu dürfen, aber sie ist in einem gewissen Sinn hierfür prädestiniert. Die eurythmische Arbeit in diesem Bereich wird zwar bereits in der Unterstufe gepflegt. Sie kann aber für die Schüler erst ab der Oberstufe so gegriffen werden, dass sie in der Lage sind, tatsächlich bewusst an dieser Qualität zu arbeiten. Dieser Prozess kann sich jedoch nur in einer sehr vertraulichen Atmosphäre vollziehen und ist, selbst wenn er gelingt, für den Schüler kaum in Worte zu fassen: Dadurch ließe sich vielleicht das zuvor beschriebene Achselzucken erklären. Man kann also sagen, dass in der Eurythmie der Oberstufe neben den bereits erwähnten und anderen unerwähnt gebliebenen Aspekten der Versuch einer Seelenerziehung gewagt wird. Ein Feld, das in unserer heutigen Gesellschaft in der von Staatsseite verordneten Erziehung kaum bearbeitet wird. Die Folgen dieses Versäumnisses werden immer offensichtlicher, zumal der Erlebnishunger unserer Heranwachsenden ein immer lohnenderes Geschäft darstellt. Wie bereits erwähnt, war es nicht das Ziel dieses Artikels, bestehende Fragen bezüglich der Eurythmie in der Oberstufe in möglichst einfacher und möglichst schlüssiger Weise zu beantworten. Vielmehr sollte durch einige wenige Aspekte ein Bild dessen vermittelt werden, was Eurythmie sein kann.

Günter Spiertz (l)