Handarbeit Waldorfschule Nürtingen

Handarbeit

Den Handarbeitsunterricht nur unter dem Aspekt des Geschicktmachens der Hände durch sinnvolle Tätigkeiten zu betrachten, ist zu wenig. In ihrer Stellung zwischen Kopf und Fuß bewirken die Hände duch rhythmisch wiederholte Bewegungen und Übung, an altersgemäßen Aufgaben sowohl die Kräftigung des Willens als auch des urteilsfähigen, logischen Denkens, wobei die Pflege des Gemüthaften den Übergang bildet. Die Schulung der Feinmotorik ist für die Intelligenzentwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung.

In der ersten Klasse ist die Aufgabenstellung, vom Spiel zur Arbeit überzuleiten. Die Schülerinnen und Schüler lernen das Stricken mit zwei Nadeln. Dies steht im Mittelpunkt des Bemühens. Es wird ein Flötenbeutel hergestellt. Duch das Stricken wird einerseits Bewusstheit und Geschicklichkeit beider Hände herangebildet, andererseits wirkt diese Tätigkeit aufweckend und fördernd auf die geistigen Anlagen des Kindes.

Wenn die Kinder mit dem Stricken vertraut sind, folgen auch andere Tätigkeiten wie Sticken, Nähen, Zwerge Herstellen und andere kleine Nebenarbeiten, um die Handgeschicklichkeit vielseitig auszubilden und die Fantasie anzuregen. Das Sticken bildet zum Beispiel nicht wie das Stricken im Besonderen die Hangeschicklichkeit, sondern es wird auch unmittelbar ein schöpferisches Element in dieses Tun mit einfließen. Beim Stricken oder Nähen kommt es ganz auf ein gleichmäßig bewegtes rhythmisches Tun an, beim Sticken auf ein fortwährend neues schöpferisches Gestalten.

Bis in das zweite Schuljahr hinein braucht es gewöhnlich, bis alle Kinder gut stricken können. Dann beginnt das Häkeln, was in etwas anderer Art die Hände beschäftigt, indem jetzt die rechte Hand mehr in den Vordergrund tritt. Sie übernimmt die Führung, die linke Hand hält das Arbeitsteil, es ist also ein wacheres Bewusstsein nötig, man kann nicht mehr, wie beim Stricken, in die Tätigkeit hineinträumen. Beim Stricken führt ein Bewegungsschwung gleich in die nächste Maschen, beim Häkeln muss die nächste Masche bewusst aufgesucht werden. Die Kinder häkeln im zweiten Schuljahr Ballnetze und Topflappen. Das Stricken der linken Maschen kommt hinzu, auch das Sticken wird weiter gepflegt.

Mit pflanzengefärbter Wolle wird in der dritten Klasse, als erstes Bekleidungsstück für den Körper, eine Mütze gestrickt. Die Kinder arbeiten nach eigenen Entwürfen. Durch die Verwendung von Pflanzenfarben kann man die Kinder die Farbauswahl schon selbst bestimmen lassen,da pflanzengefärbte Wollte durch ihre harmonischen Farbabstufungen immer zusammenpasst. Auch in der Mützenform wird den Kindern die Wahl überlassen. Dieses Werkstück stellt schon hohe Anfoderungen an die Geschicklichkeit und Vorstellungskraft. Sie müssen ihren Entwurf in die Tat umsetzen, die Mütze muss passen. Sie lernen das Abnehmen und das sachgerechte Zusammennähen. Weiterhin werden alle bisher gelernten Techniken verfeinert und weiter geübt und durch größere Nebenarbeiten wie zum Beispiel Kasperlpuppen oder Hanpuppen ergänzt.

Das freie Sticken der unteren Klassen wird in der vierten Klasse erweitert durch die senkrechte und waagerechte Stichführung auf Stramin. Es ist nun Aufgabe, mit Kreuzstichen eine Tasche zu gestalten. unter Berücksichtigung des Konstruktiven einer Tasche machen die Schüler einen eigenen Entwurf nach dem Prinzip, das Sinnvolle mit dem Schönen zu verbinden. Ein harmonisches Farbenspiel entsteht in spiegelbildlichen Formen, die aus dem Formenzeichnen gekannt sind. Die von den Kindern selbstgefärbte Wolle ermöglicht ein Stickbild, das in besonderer Weise dazu geeignet ist, den Schönheitssinn lebendig zu machen. Alle SchülerInnen können beim Sticken durch das schöpferische Gestalten etwas Einzigartiges in diese Arbeit hineigeben, der Formen- und Farbensinn wird hiebei belebt und entwickelt.

Im fünften Schuljahr stellt das Kind mit dem Stricken von Strümpfen weitere Teile seiner Bekleidung her. Im Vergleich zum bisherigen Stricken, wo die Tätigkeit an sich im Mittelpunkt des Bemühens stand, richtet sich nun die Aufmerksamkeit mehr auf die Form des Gegenstands. Gelerntes wird nun in anspruchsvolleren Arbeiten angewandt. Das Stricken mit zwei Nadeln wird erweitert auf fünf, was für die Kinder eine große Herausfoderung an ihre Geschicklichkeit darstellt. Bisher waren die Kinder gewöhnt, eine Fläche zu stricken. Beim Strumpf gilt es nun eine dreidimensionale Arbeit herzustellen, wodurch höhere Ansprüche an die Denkkräfte gestellt werden. Das Geschickt-Machen der Hände durch das bewusste Wiederholen beim Stricken schult die Willens- und Ausdauerkräfte.

Die Entwicklung des Kindes an der Pforte zur Pupertät bildet den Hintergrund für die Herstellung von Tieren in der sechsten Klasse der Waldorfschule. Der körperliche und seelische Umbruch, in dem sich die Kinder befinden, schafft hierfür besondere Voraussetzungen. Nachdem sie im Unterricht mit der physichen Organisation von Mensch und Tier vertraut gemacht wurden, bringen sie der Arbeit an den Tieren ein anderes Verständnis und Interesse entgegen. Jetzt ist das Kind imstande, ein Tier mehr in bewusster Weise lebendig zu gestalten, während es in den ersten Schuljahren mehr gefühlsmäßig mit dem Tier verbunden war. Da sein eigener Körper starken Veränderungen ausgesetzt ist, kann es nun stärker körperliche Proportionen wahrnehmen und ausgestalten. In der Arbeit an den Tieren können Gesetzmäßigkeiten erlebt (Gleichgewicht, Proportionen, Schwerkraft) und seelische ausplastiziert werden. Da die Schnitte aus den selbst gemalten Bildern der Tiere entwickelt werden, bedeutet es eine große Herausfoderung, ein naturgetreues Tier zu malen. Dieser Prozess erfordert ein Herantasten an die Tierform und genaues Beobachten und Erfassen von Proportionen. In der Schnittentwicklung und dem Zusammenfügen der richtigen Teile wird in hohem Maße die Vorstellung von der Fläche im Raum wachgerufen. Man muss hier einen Prozess denken. Beim Nähen sind Präzision und handwerkliches Geschick gefragt. Nach dem Umstülpen, dem spannendsten Arbeitsgang, wird das Tier nun von innen ausplastiziert, um es nach außen zu gestalten. Bei diesem Prozess werden in besonderem Maße die Seelenkräfte angesprochen, wenn das Tier "Leben" bekommt. Durch die Ausgestaltung von Augen, Ohren, Schnäuzchen usw. wird den Tieren seelischer Ausdruck verliehen.

In der siebten Klasse wird bei der Herstellung von Lederschuhen erstmals ein Material verwendet, das eine Mittelstellung einnimmt zwischen "weicher" und "harter" Handarbeit und einen stärkeren körperlichen Krafteinsatz zu seiner Verarbeitung benötigt. Die Wachstumsentwicklung, die in den ersten sieben Lebensjahren vom Kopf aus zu Rumpf und Gliedmaßen ging, ist nun in der Mitte der Kindheit in den Füßen angekommen. Mit dem Beginn des zweiten Gestaltwandels wachsen die Füße zuerst, dann erst Unter- und Oberschenkel. Die Füße erhalten auch zuerst ihre Endgestalt, während das Längenwachstum des Körpers noch weiter anhält. Nun verwandelt sich der kindliche Schritt zum Gang mit dem Auftreten auf der Ferse und dem Abrollen über den Ballen zu den Zehen. In dieser Phase, in der auch neues Gleichgewicht im Gehen gesucht werden muss und die Fußfläche ihre größte Berührung mit dem Erdboden erreicht, wird das Augenmerk auf die Füße und deren Funktion durch deren Bekleidung gelegt. Die Schüler erleben bei der Verarbeitung der Felle gegenüber den Stofftieren eine leicht veränderte Arbeitsweise. so beim Zuschnitt, der nun ohne Nahtzugabe erfolgt oder Lochen, was die Vorarbeit für das Umhäkeln der Teile ist, das erst deren Zusammenfügen ermöglicht. Filz und Leder werden als weiteres Sohlenmaterial verabeitet und in ihrer Eigenschaft wahrgenommen. Genaues Arbeiten ist notwendig, um eine gute Passform zu erreichen, die die Symmetrie der Fußform abbildet. So steht die handwerkliche Fertigkeit in den verschiedenen Arbeitsschritten im Vordergrund.

In der achten Klasse arbeiten die Schüler nicht mehr allein mit ihren Händen und dem entsprechenden Werkzeug, es kommt zum ersten Mal die Nähmaschine zur Herstellung einer Nähaufgabe zum Einsatz, und neben den Händen sollen nun auch die Füße den Bewegungsablauf koordinieren. Erste Übungen mit Nähübungsbögen gestaffelter Schwierigkeitsgrade machen die Schüler mit der Handhabung der Nähmaschine vertraut. Das Einfädeln und Nähen wird an einfachen Beuteln geübt, die nur gerade Nähte erfordern. An Aufgaben mit steigenden Schwierigkeitsgraden werden verschiedene Nähte und deren Einsatz erprobt. Von Gebrauchsgegenständen wie Tasche oder Etui ausgehend, wird allmählich zu Kleidungsstücken übergegangen, an denen genaue Maße und die Passgenauigkeit von Bedeutung ist. Neben der Beherrschung der technischen Anforderung beim Maschinennähen, üben die Schüler immer wieder die Beweglichkeit im Denken, da auf der linken Seite genäht und erst später umgewendet wird. Ob der Schüler richtig oder falsch gedacht hat, wird sofort erfahrbar am Ergebnis. Korrigiert wird es also mehr von der objektiven Sache als von der Lehrerin und damit ist der Schüler mehr auf sich verwiesen. Geduld, Sorgfalt und Selbständigkeit können neben der körperlichen Geschicklichkeit sachbezogen gebildet und erfahren werden.

Brigitte Fleckenstein, Gundula Hahn-Keuler, Sonja Waidelich-Saidykhan