Astronomie
Von der Mittelstufe bis in die Oberstufe erweitert die Astronomie den immer bewusster werdenden Horizont und die selbständiger werdende Orientierung der Heranwachsenden. Da dieser Prozess zugleich mit der individuellen Orientierung verbunden ist – Wo stehe ich in der Welt? Was ist diese Welt?-, ist die Methode entscheidend. Erklärungen durch Erwachsene, aus Büchern oder aus dem Internet sind mit großer Vorsicht zu behandeln. Sie führen Ergebnisse auf und stehen oft wie ein autoritäres „So ist die Welt“ da, ohne den Prozess der individuellen Aneignung berücksichtigen zu können. So wird in der Mittelstufe großer Wert auf die Beobachtungen und die damit verbundenen Empfindungen der Schüler gelegt. Selbstverständlich ist der Beobachterstandpunkt die Erde, die Phänomene der kosmischen Erscheinungen werden geozentrisch erschlossen, so z.B. Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Sonnenlauf (Ekliptik), Mondphasen, Finsternisse, Tierkreis, Planeten. Gemeinsam mit den Schülern geht es auf die Erkundung, sich die Phänomene ins Bewusstsein zu bringen und ansatzweise erklären zu können, gedanklich – aus dem Erleben heraus – zu aktiven Vorstellungen zu gelangen und die so gewonnen Einsichten mit den Phänomenen erneut zu vergleichen. Ziel ist es, dass die Schüler zu Evidenzerlebnissen aufgrund ihrer eigenen Erklärungsvorschläge gelangen können. Die Freude an diesem entdeckenden Lernen sollte im Unterricht gefördert werden und sich für die folgenden Alterstufen erhalten. Ist hier eine relative Sicherheit erlebbar, kann der Beobachtungsstandpunkt gedanklich verändert werden, z.B. in die Sonne (heliozentrisch), wodurch die gleichen Phänomene eine andere Erklärung erhalten. Mit geometrischen und mathematischen Ansätzen gelingt es, objektivierbare Resultate zu erhalten.
Wird der Blick in unterschiedlichen Unterrichtsetappen auf behandelte Gebiete wie Geographie, Botanik oder Zoologie gelenkt, dann beginnen sich existentielle Zusammenhänge zu erschließen: die Wechselbedingungen von Kosmos und Erde für die Menschen und die sie umgebende Natur.
In der Oberstufe werden die behandelten Phänomene wieder zum Bewusstsein gebracht, thematisch erweitert und differenziert. Grundfragen stehen am Anfang der Epoche: Was ist der Sinn der Auseinandersetzung mit astronomischen Themen? Gibt es persönliche Bezüge? Diese Fragen zeitigen Antworten, die im Klassengespräch mit Toleranz, was die Bandbreite persönlicher Einstellungen betrifft, behandelt werden - Waldorfpädagogik produziert keine Weltanschauung.
Nun weist die Astronomie als eine der ältesten Wissenschaften den Vorzug auf, dass es in ihrer Geschichte die unterschiedlichsten Fragestellungen, Beobachtungen und Erklärungen gibt. Sowohl in der chinesischen als auch in der der Maya-Kultur wurden Mittelwerte der Planeten- und Mondrevolutionen errechnet, d.h. die Beobachtungen und Messungen erfolgten über Generationen, und es sind dazu mathematische Formeln überliefert. Exakte Beobachtung, verbunden mit Geometrie und Mathematik, bedeutet im Ergebnis für den Menschen, sich eine gewisse Sicherheit zu erarbeiten: Ich kann, auch als 11.-Klässler, mittels Trigonometrie oder Parallaxenformeln z.B. Abstände von Planeten, Mond oder Kometen errechnen. Im Kosmos walten Gesetze – Wie entdecke und erfasse ich sie? Diese Grundkonstante des forschenden Bewusstseins ist ein Leitmotiv der 11. Klasse. Johannes Kepler geht u.a. von der Grundüberzeugung aus, dass das Sonnensystem ein Abbild der Dreieinigkeit darstelle. Die göttliche Schöpfung vollziehe sich nach geometrischen Gesetzen und Proportionen, so Keplers Ausgangspunkt, die teilweise bereits von den Platonikern erkannt wurden. Seine Gesetze bestätigen ihm, dass Gott geometrisiert. So gesehen ist Astronomie eine Art Gottesdienst. Isaak Newton sieht ebenfalls keinen Widerspruch zwischen den von ihm entdeckten Gesetzen, mit denen die Berechnungen in weitere Dimensionen möglich sind, und dem göttlichen Schöpfungsakt. Sein Blick schärft das Bewusstsein über die Qualitäten der Materie, über Bewegungsabläufe. Da werden die Berechnungen, die in der Astronomieepoche durchgeführt werden, schon etwas anspruchsvoller. Mit Einstein und seinen Zeitgenossen gelangt man in die Bereiche moderner Naturwissenschaften, in denen die landläufigen Vorstellungen versagen. Es ist ein wichtiger Moment, mit den Jugendlichen sich in diese Bereiche vorzutasten, denn dazu bedarf es einer gewissen Selbstsicherheit. Einen wesentlichen Zielpunkt des Unterrichtes stellt die Auseinandersetzung mit dem momentan gängigen Weltbild des so genannten Urknalls (big bang) dar - in der Folge der Galaxie-Untersuchungen durch Edwin Hubble entstanden. Die Phänomene und deren unterschiedlichen Interpretationen sind dafür der Ausgangspunkt, ebenfalls jene Phänomene, welche auf die Grenzen dieses Modells verweisen.
Wenn es gelingt, wird gegen Ende der Epoche deutlich, dass sämtliche Weltbilder das Ergebnis menschlichen Erkennens darstellen, welches sich im Laufe der Geschichte radikal verändert hat – und weiter verändern wird. Der Kosmos eines Keplers hat mit dem Kosmos eines Hubble quasi nichts mehr gemeinsam.
Der moderne Mensch kann keine Autorität anrufen, die ihm sagt, ob seine Erkenntnisse richtig sind – das muss er selbst leisten und verantworten, wozu es einer Reihe von Kompetenzen bedarf. Dieser enorme Emanzipationsschritt erscheint in der 11. Klasse nicht nur in der Astronomieepoche.
Dr. Albrecht Hüttig