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Schneidern
Beim Schneidern erfährt der Schüler die Notwendigkeit exakter Berechnung und Ausführung eines Werkstückes. Er erkennt verschiedene Gesetzmäßigkeiten von Zahl und Maß und entwickelt weiteres Verständnis für die Arbeit und das Können anderer Menschen (die auch z.B. die eigene Kleidung bisher angefertigt haben).
So lernen die Schüler das Maßnehmen, das Schnittzeichnen und Abändern, das Material auszuwählen, das Zuschneiden, Markieren, Heften, Probieren und Nähen. Aber auch die verschiedenen Versäuberungsarten werden geübt z.B. Verschlüsse, Säume, Besätze oder den Halsausschnitt. Oft werden Knopflöcher gebraucht und ein sinnvolles Gestalten der Passform, der Farbe und der Farbnuancen gelernt. Der Umgang mit der elektrischen Nähmaschine beginnt meist in der 8. Klasse.
Kleider machen Leute
Schneidern in der 9. Klasse
Die Schneiderepoche in der 9. Klasse bildet den Abschluss des eigentlichen Handarbeitsunterrichts. Die Jugendlichen sind gerade der Kindheit entwachsen, das bedeutet einen Durchbruch zu neuem Selbst- und Weltbewusstsein. Sie erleben allmählich eine persönliche Beziehung zu allem, womit sie die Welt konfrontiert. In jedem Schüler wird nun eine „Persönlichkeit“ geboren. Man entdeckt sich selbst neu und betrachtet sich gegenseitig auch mit neuen Augen. Gleichzeitig entsteht der Wunsch und das Interesse, Kausalzusammenhänge zu erfassen, und die Sehnsucht, die Welt zu durchschauen. Um diesen Entwicklungsschritt der Jugendlichen fruchtbar werden zu lassen, muss der Lehrplan der 9. Klasse entsprechend gestaltet sein. Rudolf Steiner gibt in seinem Vortrag am 7.2.1920 in Dornach hierfür eine wichtige Vorgabe: „ (...) nur bei demjenigen der drinnen stehen kann im praktischen Leben, der unter Umständen geschickt sein kann, wenn es darauf ankommt, überall zuzugreifen, ist der ganze menschliche Organismus so durchdrungen von innerer Geschicklichkeit, dass diese sich auch auslebt in wirklich tragfähigen Gedanken.“ Damit hat die Erziehung im Jugendalter die Willenserziehung als vordringliche Aufgabe: auf der Erde ankommen, um richtig Fuß fassen zu können. Nicht nur mit dem Kopf Dinge erfahren, sondern tätig werden mit einer Arbeit, die für das Leben etwas bedeuten kann.
Es wird deutlich, dass das Schneidern eine Ergänzung der anderen Unterrichtsfächer darstellen sollte, um den Intentionen, die Steiner anspricht, nachkommen zu können. In der Rudolf Steiner Schule Nürtingen baut das eigentliche Schneidern in der 9. Klasse auf den in der 8. Klasse erlernten Grundlagen des Nähens an der Maschine auf. In der 8. Klasse kommt zum erstenmal die Nähmaschine zum Einsatz. Neben den Händen sollen nun auch die Füße den Bewegungsablauf koordinieren. Erste Übungen mit Nähübungsbögen gestaffelter Schwierigkeitsgrade machen die Schüler mit der Handhabung der mechanischen Nähmaschine vertraut. Das Einfädeln und Nähen wird an einfachen Beuteln geübt, die nur gerade Nähte erfordern. An Aufgaben mit steigenden Schwierigkeitsgraden werden verschiedene Nähte und deren Einsätze erprobt. Von Gebrauchsgegenständen wie Tasche, Etui oder Matchsack ausgehend, wird allmählich zu einfachen Kleidungsstücken übergegangen.
Persönlicher Ausdruck - Korrektur an der Realität.
Was der Mensch ursprünglich als Bekleidung „trägt“ also seine „Tracht“, veränderte sich mit dem Bewusstseinswandel des Menschen. Solange es sich um Gewebe handelt, die im Umkreis des Menschen Verwendung finden als Kissen, Decke, Matte, Teppich, Vorhang, kann die ursprüngliche Form des Rechteckes, das sich aus der Art des Webens notwendig ergibt, erhalten bleiben. Sobald das Gewebe dem Menschen zur „Bekleidung“ dienen soll, muss es andere, menschengemäße Formen annehmen. Allerdings bestand bei den Menschen, die ein natürliches Empfinden den Dingen und Vorgängen ihrer Umwelt gegenüber bewahrt hatten, eine Art Scheu, den logischen Aufbau eines Gewebes willkürlich zu zerschneiden. Deswegen ist das Einhüllen in Tücher heute bei vielen Völkern noch Gepflogenheit. Die Inderin legt ein 7 x 1 Meter messendes rechteckiges Tuch in spiraligen Windungen um den Körper. Der Sarong ist die Kleidung der indonesischen Frauen: ein Tuch von 2 x 1 Meter Größe wird an der Längsseite zusammengenäht, dann steckt man den überschüssigen Stoff an den Seiten straff über dem Körper fest. Auf malaisch heißt dieses Kleid: „Behälter“! Auch bei uns hat das Rechtecktuch in der Bekleidung noch seine Bedeutung.
Aber immer stärker wird der Stoff der Gestalt des Menschen angepasst, das Kleidungsstück verlangt, dass das Gewebe ohne Rücksicht auf seine rechtwinklige Struktur geteilt und zerschnitten wird. Das müssen die Menschen als einen fast schmerzlichen Prozess erlebt haben, der von großer Wichtigkeit ist, sonst hätten sie ihm nicht den Namen „Schneidern“ gegeben, sondern vielleicht „Nähern“, denn schließlich ist das Nähen ebenso wichtig wie das Zerschneiden, das Teilen des Stoffes. Bei der Herstellung des Kleidungsstückes wird der Mensch selbst der Mittelpunkt des Werkstückes. So wird das Bewusstsein der Jugendlichen in der 9. Klasse in einer objektiven Weise auf sich selbst gelenkt und dieser bis in seine körperliche Gestaltung hinein ernst genommen.
Der Hinweis Steiners, dass die Kleidung eigentlich davon ausgehe, den Menschen schön zu machen, (1) ist das Motiv für die Schneiderepoche im 9. Schuljahr. Der junge Mensch hat nun das Bedürfnis, seine Persönlichkeit über seine Kleidung zur Entfaltung zu bringen. Ein zweites Motiv stellt die „Korrektur an der Realität“ dar, die den Jugendlichen aus der Sache heraus auf die Erkenntnis und stets neue Einschätzung seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten verweist, und den Willen zur Selbständigkeit herausfordert.
Maßnehmen – Schnittmuster – Zuschneiden und Nähen.
Schon durch das „Maßnehmen“ bekommen die Schüler ein neues Bewusstsein für die Proportionen ihres eigenen Körpers und werden sich somit ihrer Individualität stärker bewusst. Es wird gegenseitig Maß genommen und die Größe anhand verschiedener Tabellen ermittelt. Wie nimmt man richtig Maß? Die Ärmellänge z.B. bei gestrecktem oder angewinkeltem Arm ist um mehrere Zentimeter unterschiedlich. Viele Schüler kommen mit genauen Vorstellungen über das anzufertigende Kleidungsstück in den Unterricht, besonders wenn schon Mitschüler in der vorangehenden Epoche Bekleidung hergestellt haben, die dann als Beispiel und Anreiz für eigene Vorstellungen dient. Andere Schüler können im Gespräch auf den Weg zu „ihrer“ selbst genähten Bekleidung geführt werden. Voraussetzung für die freie Auswahl und Entscheidung ist eine fachlich versierte Lehrkraft, die die Schüler schnitttechnisch leitet und auch bei der Herstellung jeden Handgriff zu erklären weiß.
Nach den Schülerwünschen werden die Modelle und Schnitte aus den vorhandenen Vorlagen ausgewählt, manchmal aber auch selbst mitgebracht und teilweise mit Lehrerhilfe selbst entworfen. Für den Grundschnitt kopieren bzw. entwickeln die Schüler „ihr Schnittmuster“ auf festes Papier, um es jederzeit nach ihren Maßen und Wünschen verändern zu können. Da einige Schnitt-Teile ja nur die halbe Breite des Stoffteiles messen, werden die Vorstellungskräfte der Schüler gefördert. Sie müssen die Teile gedanklich zum Ganzen ergänzen, mit Hilfe der Symmetrie. Es entsteht dabei eine verbesserte Vorstellung wie die zugeschnittenen Stoffteile auszusehen haben. An dieser Stelle schließt sich ein Gespräch über geeignete Stoffe und die zu erwartende Schwierigkeit ihrer Verarbeitung an. Muster oder Strichrichtung des Stoffes sind zu beachten. Manche Stoffe müssen vorgewaschen werden, da sie noch eingehen. Der Stoff soll selbst besorgt werden, ein schwieriges Unterfangen, da es neben dem Gefallen auch um dessen Eignung geht, wenn das Kleidungsstück gelingen soll.
Beim „Zuschnitt“ kommt es darauf an, die Schnitt-Teile so aufzulegen, dass der bemessene Stoff ausreicht. Selbst kleinste Fehler lassen sich später schwer oder gar nicht mehr beseitigen. Die Schüler haben dabei eine große Verantwortung, was diesen Arbeitsabschnitt für alle spannend macht. Aus dem Ganzen werden also Teile herausgeschnitten, die beim Nähen wieder zu einem neuen Ganzen verbunden werden. Hierbei vollzieht sich die Umwandlung von der Fläche zum Raum. Für die Schüler ist es eine Herausforderung herauszufinden, welche von den vielen Teilen zueinander gehören. Ein genaues Durchdenken des Arbeitsprozesse ist notwendig. Auch im Arbeitsprozess des Nähens wird ständig die Beweglichkeit des Denkens ausgebildet. Wir nähen auf der Innenseite des Kleidungsstücks und müssen uns das Ergebnis nach der Umstülpung vorstellen können. Ob die Schüler richtig oder falsch gedacht haben, wird sofort erfahrbar am Ergebnis. Damit erfolgt die Korrektur durch die Sache und nicht durch die Lehrkraft. Steigende Genauigkeit im Denkvorgang wird so gefördert.
Eine weitere Anforderung stellt sich den Schülern in der praktischen Handhabung der Nähmaschine. Damit auch schwierige Nähte gelingen, bedarf es einer äußersten Präzision in der Koordination der Bewegungen von Augen, Händen und Füßen. Es ist erstaunlich, wie die Schüler mit der Korrektur durch das Ergebnis ihre Geschicklichkeit im Maschinennähen im Laufe der etwa fünf- bis sechswöchigen Schneiderepoche verbessern können. Ist das Kleidungsstück dann soweit gediehen, dass eine Anprobe möglich ist, wird es im Spiegel recht kritisch betrachtet und die Meinung der Mitschüler zu Rate gezogen. Hier ein wenig länger, dort noch eine Falte beheben oder etwas enger nähen? Es wird beraten, das Für und Wider diskutiert, aber auch anerkannt und gelobt.
Nähert sich die Epoche dem Ende, so werden intensiv die letzten Säume, Knopflöcher und andere Details ausgeführt, und die Schüler tragen stolz ihre geschneiderten Hosen, Röcke, Kleider oder Jacken. Sie können nun einschätzen wieviel Arbeit in einem Kleidungsstück steckt und haben die Fähigkeit erworben, in Zukunft selbst zu entscheiden, ob sie das eine oder andere Kleidungsstück durch die erworbenen Fertigkeiten selbst herstellen wollen. Neben den genannten Fähigkeiten, die im Herstellungsprozess wie „von selbst“ gefördert werden, ist auch zu erleben, dass Geduld, Sorgfalt und Selbständigkeit der Schüler sachbezogen ausgebildet und erfahren werden können.
Literatur
- Rudolf Steiner, Vortrag in Dornach, 27.8.1915. In: Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung, GA 163, Dornach 1975, S. 37.
- Hedwig Haug: Kunst und Handarbeit. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart.
- Erziehungskunst Heft 5/2002, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart...
Brigitte Fleckenstein (l)